Donnerstag, Mai 17, 2012

Jeden Tag eine gute Tat.

Eigentlich wollte ich die damit abdecken, dass ich mit dem Kleinen unter dem Arm im Kino aufschlagen und den Avengers beim Retten der Welt zusehen wollte.
Aber das war dann nur noch das Nachspiel.

Gegen Mittag entschieden wir, dass wir doch da rein gehen wollten, ich reservierte also Tickets via Internet, denn dann gibt es kein zurück mehr.

Die Abfahrt ließen wir verspätet angehen, lief doch im TV noch ein Weltuntergangsszenario - es war zwar nicht Samstag, an diesem Wochentag geht im Super RTL öfters mal die Welt unter, aber an einem Feiertag lass ich das grad noch so durchgehen.
Wie die Welt nun verging und wie die Überlebenden der USA, die sich ja andauernd mit solchen brenzligen Situationen auseinanderzusetzen haben, ihr Schicksal meistern würden, konnte ich nicht mehr erfahren, der Film im Kino würde schließlich auch ohne uns anfangen und ich wollte doch eine gute Tat begehen ...

Wegen der Verspätung und wegen einer Umleitung auf der Strecke nahm ich eine eigentlich von mir nicht frequentierte Straße nach Bad Kreuznach rein, und dann standen wir da an der Ampel, es schien, als würden wir pünktlich die Reservierungen in Platzkarten eintauschen können.

Wenn, ja wenn da nicht diese 4 Kinder am Straßenrand gestanden hätten, die mir eigentlich nur deshalb auffielen, weil das eine von denen aussah wie ein Mädchen mit Ketchup auf der Stirn und einer der Jungs nebendran hatte seinen Arm um es gelegt. Keines der Kinder schien älter als 12 ... und so einen hatte ich ja neben mir sitzen ...
Das mit dem Ketchup auf der Stirn kam mir seltsam vor und da die Ampel eh auf das Grün warten ließ, hatte ich Zeit, die Szene zu betrachten.
Das Mädchen hielt mit der einen Hand seine andere Hand und da war auch irgendwie Rot drauf.
Fahrräder standen an die Mauer des angrenzenden Grundstücks gelehnt, ein Fahrrad sah ein bisschen verbogen aus. Es kümmerte sich niemand um diese Kinder, auch kein Fahrer auf der näher zum Bürgersteig verlaufenden Fahrbahn schien sich zu interessieren, jedenfalls stieg niemand aus. Alles wartete auf Grün.

Von Natur aus furchtbar neugierig blockierte ich dann meine Fahrbahn, als die Ampel schließlich doch umschaltete, alle Autos fuhren an, ich wartete darauf, dass irgend jemand sich kümmern würde, ich hatte doch eine Verabredung mit meinem Sohn und einem Film.

Da aber wirklich niemand sich näherte, der irgendwie kompetent aussah, setzte ich kurzerhand den Blinker, guckte kurz nach hinten, ob noch ein Fahrzeug zu sehen war und fuhr rechts ran, während dieser Aktion schon zeitsparend das Fenster der Beifahrerseite elektrisch herunterfahrend. Ich gebe zu, das war ziemlich dämlich, die Straße hatte ich dabei komplett aus dem Blick verloren ... es kam aber zum Glück sonst niemand mehr - Feiertag ...

Ganz kurz meine Frage, was passiert war. Das Mädchen war ein kleiner Junge, dem der Bordstein zum Verhängnis geworden war, der böse gestürzt und nicht ganz wenig verletzt war, der gehaltene Arm sah doch ein bisschen dick aus.

Der große Bruder hielt ihn im Arm, er hatte schon die Mutter angerufen, wie man einen Arzt ruft, wusste er nicht. Er meinte, die Mutter würde es schon richten, wenn sie käme, und das könne nicht mehr lange dauern ... nun hatte ich aber schon eine ganze Weile da an der Ampel gestanden und in der Zeit war niemand gekommen. Angeblich wohnten die Jungs nicht weit weg, die Mutter wäre sicher gleich da ... ich hoffte doch inständig, dass sie umgehend die Straße entlang geschossen kommen würde, auf dass wir den Filmanfang mitbekommen würden ... die Karten sollten eine halbe Stunde vor Vorführungsbeginn abgeholt werden, sonst würde jemand anders sie bekommen können ... sehr ärgerlich das war ... zudem weinte der kleine Junge, er wolle keinesfalls ins Krankenhaus, einen Arzt brauche er nicht, das würde sich schon von alleine richten. Sein Arm war nicht dünner geworden und die Schrammen auf Stirn und Nase sahen auch nicht sooo gut aus ... zudem stand auf einem Hinweis-Schild "Marienwörth-Krankenhaus" - so lange konnte es also nicht dauern, bis ein Krankenwagen zur Stelle sein würde ...

Nun lebe ich mit zwei Jungs unter einem Dach und bin es mehr oder weniger gewohnt, deren Wünsche zu ignorieren im Versuch, das Richtige zu tun ... also nahm ich das Handy widerstrebend aus dem Rucksack - aus irgendeinem seltsamen Grunde hatte ich das eingepackt, was ich eigentlich möglichst vermeide - absichtlich übrigens, und rief die 112 an ... großes Geheule des kleinen Jungen, er wolle nicht abgeholt werden, seine Mutter solle jedenfalls dabei sein ... wo blieb diese taube Nuss eigentlich?
Hätte mich ein Anruf meines Großen erreicht, mein Kleiner hätte einen Unfall mit seinem Fahrrad gehabt und stünde blutüberstömt mit einer kaputten Hand am Straßenrand - Lichtgeschwindigeit wäre nicht schnell genug!

Ich stieg also aus, musste ich doch meine zittrigen Finger in den Griff kriegen, und das geht am besten mit Bewegung, wählte 112 und wartete ... mir war gar nicht bekannt, dass man bei der Feuerwehr warten muss. Anscheinend waren da an Himmelfahrt mehr Himmelfahrtskommandos unterwegs als ich gedacht hatte ...

Es gibt eine Regel, was man sagen soll, wenn man einen Notfall meldet. Die lautet: wer, wo, was, wieviele.

Aber Ihr könnt mir glauben, wenn man das nicht jeden Tag macht, dann fällt einem diese Regel nicht ein ... im Gegenteil. Man macht genau das, warum man diese Regel eigentlich mal auswendig hatte lernen sollen, man bringt alles durcheinander und denkt, der Mensch auf der anderen Seite der Leitung, wüsste schon, worum es geht ... das Wer kriegte ich noch hin, ich meldete mich mit Namen ... und dann kam gleich das Was, es sei ein Fahrradunfall passiert ... wo und wieviele kamen mir gar nicht in den Sinn ... dabei wäre das vielleicht am wichtigsten gewesen, um überhaupt von Hilfskräften gefunden zu werden ...

Die Gute auf der anderen Seite blieb aber die Ruhe selbst, sie fragte ganz konkret, wo ich mich befinde. "Bad Kreuznach" antwortete ich "in Bad Kreuznach auf der Einfallstraße zur Innenstadt. Links hoch geht es zu einem §Name§Zentrum, rechts zum "Marienwörth-Krankenhaus ... damit konnte die Frau leider nicht viel anfangen, sie fragte, ob irgendwo ein Straßenschild stehen würde ... ich lief tatsächlich auf einer der Haupteinfallstraßen nach Bad Kreuznach herum, links eine große Straße, hinter mir der Weg zur Autobahn, geradeaus zum Bahnhof und weiter vorne die Innenstadt und es war ausgerechnet an dieser Stelle kein Schild mit irgendeinem Straßennamen aufgestellt. Ich konnte es kaum fassen.

Schließlich meinte ich "Weiter vorne nach links geht es zum Bahnhof, direkt vor mir ist das Arbeitsamt." und das schien ihr weiter zu helfen, denn sie war sogleich wirklich hilfsbereit und sagte zu, einen Krankenwagen zu schicken.

Nun brach das arme Kind aber wirklich in hysterisches Geweine aus, er wolle auf keinen Fall auch nur in die Nähe eines Krankenhauses. Also bot ich ihm zur Ablenkung erstmal einen Platz im Auto an, mein Kleiner musste dafür aussteigen, er protestierte aber nicht ... er fürchtete nur, dass er den Film verpassen würde. Im Kino wurde aber der Anruf mit der Ankündigung unserer Verspätung nicht angenomen, da war wohl zu viel los und einfach wegfahren wollte ich auch nicht ... ein Dilemma ... wo blieb nur die Mutter??

Schließlich Sirenengeheul - da bog auch schon der Krankenwagen um die Ecke ... es waren kaum 5 Minuten vergangen ... man hat keine Vorstellung davon, wie lang 5 Minuten sein können ... entgegen jeder Verkehrsregel fuhr der Krankenwagenfahrer quer über die an dieser Stelle 4-spurige Straße und parkte vor mir entgegen der Fahrtrichtung. Krankenwagen dürfen das.

Zwei junge Männer stiegen aus. Und ich meine wirklich junge Männer. Es ist schon ein seltsames Gefühl, dass da jemand helfen kann, der nur wenig älter als mein großer Sohn sein konnte. Einer der beiden stellte sie vor und er fragte zuerst mal nach dem Namen ... auf die Idee hätte ich ja auch mal kommen können. Wenn man jemanden ansprechen kann, hilft es wohl schon ein bisschen ... ich wäre jedenfalls froh, würde mich jemand mit meinem Namen ansprechen ... der junge Mann erklärte dem Jungen, dass er ins Krankenhaus müsste, der Arm müsste geröntgt werden. Großes Drama! Krankenhaus! Keinesfalls!
Also versuchte ich zu erklären, dass der Junge auf keinen Fall ohne seine Mutter ins Krankenhaus wollte, er wollte gar nirgendwo hingebracht werden, wenn sie nicht da war - wo blieb sie denn endlich???

Der große Bruder erklärte, er würde nach Hause laufen und sie holen und er sprintete los.
Die Sanitäter bestätigten, dass sie Marcel nicht wegbringen würden, dass sie auf jeden Fall warten würden, bis jemand kam, dem er vertraute. Ob er solange aus dem Auto aussteigen und auf der Bahre Platz nehmen würde. Mit skeptischem Blick stieg Marcel um, aber als die Bahre in die "richtige" Höhe gefahren werden sollte, brachen alle Dämme. Wildes Geschrei, Schnappatmung - es war noch gar nicht wirklich etwas passiert, aber Marcel war erst wieder ruhig, als er die Füße wieder auf dem Asphalt hatte.

Dann ließ er auch wieder mit sich reden und schlug schließlich vor, dass er vorne im Krankenwagen sitzen würde um zu warten. Keinesfalls aber hinten drin.
Die Mutter war immer noch nicht da, langsam begann ich, sie zu verfluchen ...

Ein bisschen war ich ja froh, dass sich jemand um Marcel kümmerte - ich musste doch noch einen Film erreichen, damit mein eigener Sohn sich nicht vernachlässigt fühlte, also fragte ich den netten, jungen Mann, ob ich noch gebraucht werde, was er verneinte, sie würden auf die Mutter warten und sich dann auf den Weg machen.
Also versuchte ich nochmal mein Glück beim Kino, dort nahm dann doch jemand das Telefon ab. Meine Geschichte, dass wir aufgehalten wurden, weil ich einen Krankenwagen rufen musste, kam mir dann doch selbst ein bisschen dramatisch vor, aber man kann ja auch mal die Wahrheit erzählen und egal, ob der junge Mann glaubte, was ich da sagte oder nicht, er sagte zu, die Reservierung zu halten, obwohl wir eigentlich schon über die Zeit waren - darauf kam es an ...

Damit fuhren wir also von der Unglücksstelle weg, als ein Notarztwagen gerade neben dem Krankenwagen hielt, mein Kleiner meinte, er sähe den Bruder mit einem Mann die Straße entlang laufen und nach weiteren 750 Metern stellten wir das Auto auf dem Parkplatz ab und besuchten The Avengers ... genau das Richtige zum Abreagieren ...

Und nun mache ich mir Gedanken darüber, was wohl aus Marcel geworden ist ... eine Erinnerung wie dieses ungefähr 6-jährige Kind vor über 10 Jahren, das im Schwimmbad mal seinen Geschwistern hinterher gerutscht war und dabei vergessen hatte, dass es noch nicht schwimmen konnte, weshalb es wieder über die Wasseroberfläche gehoben werden musste ...